Unbestritten ist die Funktion der Sprache für das Denken. Diese ist aber nicht zu verwechseln mit der Funktion der Schrift. Sprache ist unerlässlich für das Verständnis abstrakter Zusammenhänge und für die Strukturierung von Sachverhalten. Ist es dafür auch unerlässlich, die Sprache nieder zuschreiben?
Nehmt mal das Beispiel eines Schauspielers, der nicht lesen kann. Na und, man könnte ihm die Texte doch vorlesen oder als Hörbuch geben. Dann kann er auch zurückspulen und sich eine Stelle öfter anhören. Er könnte seinen Text lernen und warum sollte er das Stück nicht verstehen und seine Rolle nicht hervorragend spielen? Hier wird deutlich, dass Schrift nur Mittel zum Zweck ist. Sprache dagegen ist viel mehr als ein Mittel zum Zwecke der Verständigung.
Nehmen wir jetzt die Musik als Sprache, dann wäre die Notation die Schrift. Die Notation kommt historisch vom Klavier. Für die Gitarre ist Notenschrift nicht eindeutig. Darum gibt es für die Gitarre eine andere Schrift, nämlich eine mit Tabulaturen. Hat man jetzt als Gitarrist Nachteile, wenn man Gitarre mit Tabulaturen lernt und nicht nach Noten? Sieht man vom Kompatibilitätsproblem ab, dann natürlich nicht. Die eine Schrift ist so gut, wie die andere, lateinische Buchstaben sind so gut wie Kyrillische.
Die Schrift hat doch ersteinmal die Aufgabe, etwas durch Niederschrift vor dem Verlust zu schützen und es anderen zugänglich zu machen. Das kann man grundsätzlich auch mit einer Aufnahme.
Jetzt ist an dem Argument was dran, dass man die Struktur und vielleicht einige abstrakte Ideen der Musik besser versteht, wenn man sie visualisiert. Ich glaube, dass das Verständnis von Struktur über Visualisierung nur eine Frage der Gewohnheit ist, sonst hätten Blinde kein Verständnis von Struktur. Blinden kann man nicht erklären, was Farbe ist, aber wohl, was Struktur ist. Es ist eine Frage des Trainings, ob man Strukturen nur wahrnimmt, wenn man sie vorher gesehen hat oder das auch kann, wenn sie einem jemand erklärt hat und/oder man sie gehört hat.
Die starke Betonung des Visuellen in der Notenschrift hat sicherlich nicht nur die genannten Vorteile, sondern auch gewisse Nachteile, eben weil sich die Wahrnehmung zum Beispiel auf sichtbare Strukturelemente konzentriert, das gewohnt ist, weil die musikalische Ausbildung von Anfang an mit Noten arbeitete. Ich sag nicht, dass alle Notisten uninspirierte Musikschulmucker sind, aber es besteht zumindest die Gefahr, die Wahrnehmung von Anfang an weg vom Hören, hin zum Sehen und auch weg von der Intuition, Spontanität und Kreativität hin zur Verkopfung und Strukturiertheit zu lenken.
Es gibt ne Menge alternativer musikpädagogischer Konzepte, die nicht mit Noten anfangen. Es ist Schwachsinn, dass man ein Instrument nur mit Noten spielen lernen kann. Das zeigen die vielen autodidaktischen Superstars der Musikgeschichte. Monk, Charlie Parker (er hat Dizzy seine Stücke immer vorgespielt, der hat sie dann notiert) Ornette Coleman oder erst recht die Helden der Rockgeschichte von Hendrix über Dilan und Cash bis Cobain.
Das man eine gemeinsame Musikersprache benötigt, um mit anderen kommunizieren zu können ist ein anderes Thema. Dazu muss ich aber keine Noten lesen können, sondern muss nur bestimmte Begriffe und ihre Bedeutung kennen.
Ich finde auch, dass man irgendwann mal zumindest rudimentäre Notenkenntnisse erwerben sollte, eben um sich mit Schulen befassen zu können. Es ist aber mit Sicherheit nicht so wichtig, besonders ganz am Anfang, also sagen wir mal im ersten Jahr Unterricht. Im Gegenteil, viele Lehrer gehen ganz am Anfang, selbst bei Chello und Klavier, mittlerweile weg vom Blattspiel hin zum kreativen Endecken des Instruments, gerade bei kleinen Kindern.
Richtig flüssiges Blattspiel braucht man nur, wenn man so komplexe oder so viele verschiedene Sachen spielt, dass man sich den Kram nicht mehr merken kann. Besonders, da solche Leute oft sehr wenig und konzentriert proben und dann auf Charts angewiesen sind. Das sind vor allem viel gebuchte Sessionmusiker, Big Band Trommler, Orchestertrommler und Hardcoreprofi-Tanzmucker.
Noten sind keine eigene Sprache. Sie sind nur eine Schrift und haben keinen Selbstzweck, sondern nur den Zweck etwas (äußerst unvollkommen) konservieren und visualisieren zu können.